Guest Blog – Marc Raffel
Wie kann der Deutsche Tennissport den „Kerber-Effekt“ besser nutzen?
Seit etlichen Jahren beobachte ich bereits interessiert die Qualitätsstandards des Tennistrainings in deutschen Vereinen und kommerziellen Anlagen. Dazu habe ich viele Gespräche mit Tennisvorständen, Trainerkollegen, Sportlern sowie Jugendlichen und Eltern geführt. Ebenfalls habe ich die Spielniveaus auf Jugend- und Aktiventurnieren in den letzten Jahren überprüft und untersucht. Mein Fazit fällt ernüchternd aus: Trotz unserer neuen deutschen Vorbilder Angelique Kerber und Alexander Zverev fallen diverse Qualitätsdefizite auf. Die Folgen sind u.a. eine erhöhte „Drop-Out-Quote von Kindern und Jugendlichen sowie eine signifikant nachlassende qualitative und quantitative Leistungsbilanz. Sicherlich gelingt es immer wieder auch positive Beispiele und Sachverhalte zu finden, der allgemeine Trend absinkender Normen und mangelnder Spielfertigkeit ist jedoch nicht mehr zu übersehen.
„Wo liegen die Gründe?“, frage ich mich. Natürlich spielen gesellschaftliche Faktoren wie z.B. die G 8 Schulpflicht und digitale Ablenkung eine Rolle. Diesen „Bremsfaktoren“ sind jedoch auch viele andere gesellschaftliche Bereiche ausgesetzt. Meiner Meinung nach liegt aber das eigentliche Problem mehr im Angebot, in der Gestaltung und der Durchführung des Tennisunterrichts bzw. des Tennistrainings. Immer mehr unausgebildete oder minderqualifizierte Kräfte bieten sich den meist klammen Vereinen als Übungsleiter an. Nach dem Motto „billig ist besser“ legt man offenbar weniger Wert auf Ausbildung, Studium und Referenzen, sondern viel mehr Wert auf niedrige Stundenhonorare und Unverbindlichkeit. Dies erscheint mir, aber als der komplett falsche Weg, der die Vereine und den Tennissport über kurz oder lang weiter in Bedrängnis bringen wird.
Wir wissen schon länger, dass der kompetente Tennistrainer eigentlich eine Schlüsselposition in den Vereinen innehaben sollte. Natürlich mit einem Sack voller Pflichten, die er schultern muss, jedoch auch mit Gestaltungsspielraum und Kompetenz ausgestattet. Dieser „kompetente“ Trainer ist gefragter denn je.
So kommt es, dass vor kurzem ein Schüler in unserem Tenniscamp auf Mallorca zu mir kam und nach jahrelangem Tennistraining bei einem Vereinstrainer immer noch falsche Griffe am Racket benutzte und auf einem spärlichen Spielniveau verharrte. Von diesen Beispielen gibt es zahlreiche, die wir in unserer jahrelangen Arbeit auf den Tenniscourts miterleben durften. Vereine und kommerzielle Anbieter müssen viel mehr auf Ausbildung und Referenzen der Tennistrainer achten! Denn letztlich sichert nur der Spielerfolg nachhaltig den Spaß am Tennissport und somit auch stabile Mitglieder- und Aktivenzahlen.
Die Trainergeneration Becker & Graf verliert an Einfluss
Nachdem viele Tennistrainer der Graf & Becker Generation (und davor) aus Altersgründen kürzertreten, macht sich nun auch die mangelnde Spielfähigkeit und mangelndes Tenniswissen der nachrückenden Trainer-Generation mehr und mehr bemerkbar. Ich beobachte diese bedrohliche Entwicklung bereits seit einigen Jahren und stelle fest, dass dies auch auf unseren Tennisnachwuchs negative Auswirkungen hat. Konnten wir vor etlichen Jahren noch leidenschaftlich unsere Branchenführer und Top-Weltranglistenspieler namentlich herunter beten, fällt es vielen jungen Tennisspielern heute zunehmend schwerer Tennis-Champions und Top-Tennisspieler aufzuzählen. Nach Federer, Nadal, Kerber und Williams müssen die meisten passen. Sogar selbsternannte Tennislehrer wissen heute kaum etwas über Trainingslehre, Trends und Regeln auf der ATP tour. Wie sollen diese Übungsleiter jemandem für den Tennissport begeistern? Was kann ich von ihm lernen?
Diesen uninformierten Zustand kann man in Teilen natürlich mit einer mangelnden Tennispräsenz im TV erklären. Aber sollte ein Tennisfan, Tennistrainer oder Sportler durch seine digitalen Zugriffsmöglichkeiten (die ja auch Chancen bieten) nicht mehr Wissen drauf haben? Der Tennistrainer ambitionierter Schüler sollte viel mehr auf das Tenniswissen seiner Schüler achten und umgekehrt! In unserer Spaß- und Konsumgesellschaft wird viel auf das emotionale Wohl unserer Kinder geachtet. Jüngste & junge Kinder Tennisgruppen beobachtet man oft in einem wahren Event-Park auf dem Tennis-Court. Der stets zu Kindern und Eltern zuvorkommende und spaßige Trainer erinnert immer öfter an einen Animateuer, der mit allerlei methodischen Hilfsmitteln den Tennis-Court in einen Spaßparcours verwandelt. Sicherlich gut gemeint und eine Zeit lang für die Kleinen unterhaltsam, auf Dauer jedoch für den Tennissport wenig zielführend. Tennis ist eine äußerst komplexe Sportart und beruht ab einem bestimmten Alter auf die richtige Technik und das richtige Spielverständnis. Die meisten von mir beobachteten Übungseinheiten erfüllen zwar den Spaßfaktor, bringen jedoch den Tennissport nicht mehr bei. Der Tennisschüler sollte viel mehr Wert auf die tatsächliche Tenniskompetenz seines Trainers legen und nicht nur auf den Unterhaltungswert achten!
Mehr Leistungstennis in den Vereinen, mehr Tennis in den Schulen
Der „reife“ deutsche Tennisspieler lebt in seiner ganz eigenen Tenniswelt. Es ist mittlerweile doch auffällig, dass bei vielen von uns „Tennis-Aktiven“ das Interesse am Top-Tennissport oder Nachwuchstalenten vielfach verloren gegangen scheint. Man spielt in seinem Team oder in seinem Doppel – das war es dann aber auch. Vereine leiden vielfach an einer mangelnden Wertschätzung für Turniertennis und Nachwuchsförderung. Vielfach werden derartige Ambitionen gar als Last und Bedrängung empfunden. Meine Forderung und Hoffnung: Vereine und kommerzielle Anbieter müssen wieder Mut haben, sich zum Tennis als Leistungssport zu bekennen! Denn nur durch Vorbilder werden der Nachwuchs und der Beitragszahler von morgen langfristig gesichert. Auch in den Schulen, vor allem in den Grundschulen, sollte neben den übrigen Sportarten der Tennissport angeboten werden. Entweder in AGs oder im allgemeinen Angebot des Sportunterrichts. Neben gesundheitlichen Aspekten bietet der Tennissport als „Lifetime-Sport“ ein Thema für das gesamte Leben. Oder begegnen Ihnen etwa häufiger begeisterte 75-jährige Judosportler, Kugelstoßer oder Tae-Kwon-Do Kämpfer in der Sporthalle? Dagegen wimmelt es aber geradezu an Tennisspielern in diesem Alter! Sechs bis 10-jährige gut ausgebildete Tennis-Grundschüler sind nicht nur eine Bereicherung für jeden Tennisverein und jedes Tennistraining, sondern auch für jede Krankenkasse. Deshalb: Animieren Sie die Grundschule ihrer Kinder den Tennissport anzubieten! Denn sonst wird es über kurz oder lang weiter zu einem nachlassenden Spielniveau auf der Tennis Jugend- und Nachwuchsebene kommen. Denn bislang beruhen die wenigen vorzeigbaren Tennistalente meist nur noch auf Privatinitiativen.
Mehr Qualität, weniger billig, mehr Erfolg
Und so ist Quantität und Qualität auf den nationalen Jugendturnieren in Deutschland kontinuierlich und unaufhaltsam zurück gegangen. Aus immer weniger aussichtsreich spielenden Tenniskindern wird ein kommender Champion immer unwahrscheinlicher. Die vor einigen Jahren eingeführten Leistungsklassenturniere fördern aus meiner Sicht den Qualitätsrückgang. Zwar vermitteln sie auf den ersten Blick einen Zugewinn für die Tennis-Turnierszene, aber eigentlich spalten sie mittlerweile die Turnierszene in eher breitensportorientierte LK-Spieler und die immer mehr sich in der Unterzahl befindenden tatsächlich leistungsambitionierten DTB- bzw. ITF-Turnierspieler. Deshalb mein Aufruf: Genügt Euch nicht mit einer LK-Klassifizierung, stellt Euch der Herausforderung von DTB- u. ITF-Turnieren! Natürlich können wir nicht von heute auf morgen alle Missstände in der
Tennisszene beseitigen, viel mehr geht dies nur Schritt für Schritt. Aber es sollte ein Anfang gemacht werden, in dem in Zukunft wieder verstärkt auf Qualität im Tennistraining geachtet wird. Das könnte heißen: Vorfahrt für den kompetenten, gut ausgebildeten Tennistrainer mit belastbaren Referenzen, der verantwortlich und sorgfältig u.a. den Tennisnachwuchs ausbildet und sichert und somit einen wichtigen Beitrag zum Erhalt und Erfolg der gesamten Szene leistet. Mehr Qualität, weniger billig, mehr Erfolg.